Mitte Oktober 2022 ging es radsportlich auf der Bahn "hoch her". Die 119.Welttitelkämpfe im Bahn-Radsport seit der WM-Premiere 1893 in Athen sorgten für das finale sportliche Highlight auf der Rad-Bahn 2022. Im Velodrome National in Saint-Quentin-en-Yvelines sorgten dabei auch die deutschen Bahn-Radsport-Asse für einige Medaillen-Erfolge, darunter die gebürtige Dassowerin Lea Sophie Friedrich, Jahrgang 2000, die bis 2021 auch vom Olympiastützpunkt Schwerin betreut wurde, wie zuvor Radsport-Ass Stefan Nimke. Ja, Schwerin und Radsport, das hat Tradition, das hat auch Zukunft...
Radsportliche Zeitreise ins Jahr 1886
Im Jahr 1886 wurde der „Schweriner Radfahrverein“ unter maßgeblicher Initiative von Karl Gundlach, einem Kaufmann, gegründet. Am 23./24.Juni 1888 feierte der Verein mit der „Vereinigung der Mecklenburgischen Radfahrer“ sein Stiftungsfest. Insbesondere Radsportveranstaltungen bzw. – darbietungen auf dem Hochrad gehörten zum Repertoire dieses Vereines.
Innerstädtische Radsport-Konkurrenz
Im Jahr 1896 erhielt der „Schweriner Radfahrverein“ dann innerstädtische Konkurrenz: Es gründete sich der Radfahr-Verein „Greif zu“. Dieser erhielt mit dem Möbelfabrikanten Schultz seinen ersten Vorsitzenden. Im folgenden Jahr lud der neue Verein sogar den Großherzog zum ersten Stiftungsfest ein. Dazu übermittelte der Vorsitzende Schultz in einem Schreiben vom 2.September 1897 folgendes: „ … Am Sonntag, den 5.d.Mts. feiert der Radfahrer Verein `Greif zu` zu Schwerin sein erstes Stiftungsfest und erlaubt sich der unterzeichnete Vorstand Eu.(re) Hoheit, als den Protektor und Förderer des Sports zu den am Nachmittag vier Uhr auf der Chau(s)see bei Wiligrad stattfindenden Radwettfahrten ganz ergebenst einzuladen.
Eurer Hoheit gestatten wir und gleichzeitig die alleruntertänigste Bitte zu unterbreiten, dem Verein zu seinem Fahren um die Greifenmeisterschaft des Vereins einen Ehrenpreis, vielleicht in Form einer Greifennadel, zu stiften. Indem wir uns der angenehmen Hoffnung einen gütigen b(B)escheid zu erhalten, hingeben, verlassen wir Eu.(re) Hoheit alleruntertänigst treu gehorsamster Vorstand, i.A. H.Schultz, Vorsitzender, Marienplatz 2 …“
Ja, "Gehorsam" und "Untertanen-Geist" - das galt schon damals, ebenfalls in Sport, etwas. Schon damals wollte sich iemand Fördergelder entgehen lassen - und mitunter musste dann die Lobhudelei gegenüber der Obrigkeit "wichtige Dienste" leisten.
1896 - Erste Olympiasieger im Bahn-Radsport ermittelt
Im Gründungsjahr des Vereines "Greif zu" wurden übrigens die ersten Olympiasieger im Bahn-Radsport, in Athen, ermittelt. Fünf Disziplinen standen damals im Bahn-Radsport auf dem Programm und die Goldmedaillen sicherten sich Paul Masson (Frankreich, drei), Leon Flameng (ebenfalls Frankreich, eine) und Adolf Schmal (Österreich, eine).
Schweriner Radsport Ende des 19.Jahrhunderts/Anfang des 20.Jahrhunderts
Ein weiterer Schweriner Radfahr-Verein wurde drei Jahre später, 1899, gegründet – der Verein „Wanderer“. Einige Schweriner Radsport-Anhänger, unter ihnen der Fahrradhändler Waldemar Haberecht, versuchten nach dem Austritt der „Vereinigung Mecklenburgischer Radfahrer“ aus dem „Deutschen Radfahrerbund“ einen neuen Radsport-Verein zu konstituieren, um mit diesem dem „DRB“ wieder beitreten zu können … Am 9.Oktober 1899 erfolgte dann letztendlich unter Führung des Schweriner Altmeisters im Radsport, Clemens Haberecht, die erstrebte Gründung des Vereins „Wanderer“, dem die Mitglieder von „Greif zu“ ebenfalls beitraten.
Der Schweriner Drogist Theodor Taddiken leitete in der Folgezeit als erster Vorsitzender diesen Verein bis 1932.
In den Jahren 1899 bis 1930 verzeichneten die „Wanderer“ eine äußerst positive Entwicklung. Bereits ein Jahr nach seiner Gründung gelang es ihm, in der kleinen mecklenburgischen Stadt Brüel in der Konkurrenz im „Korso“ den ersten Rang zu erkämpfen.
Gerade in den ersten Vereinsjahren erlangten die „Wanderer“ auch bei zahlreichen auswärtigen Wettkämpfen erste Preise, so z.B. im „Korso- und Schulreigen“ bzw. bei Einzel- und Mannschaftsrennen. Im aufkommenden Saalradsport dominierte der „RVW“ ebenfalls in Mecklenburg. So nahm für den Verein im Jahr 1902 eine aus 8 Teilnehmern bestehende Niederradkunstreigen-Mannschaft an einer regionalen Konkurrenz in Goldberg teil und belegte bei ihrem Debüt überraschenderweise einen ersten Platz. Dieser Triumph brachte einen Aufschwung für den Saalradsport innerhalb des „RVW“. Neben dem Reigenfahren wurde deshalb auch das Radballspiel eingeführt. In Folge dessen schaffte sich der Verein 1906 8 Saalmaschinen an, die aufgrund ihrer Technik sowohl zum Reigenfahren als auch für das Radballspiel geeignet waren.
Erfolge und andere Herausforderungen
Zahlreiche sportliche Erfolge verzeichneten die „Wanderer“ zudem in der Folgezeit. So konnte der Senatspreis der Stadt Bremen im 8er Niederradkunstreigen (Klasse B) und der erste Preis auf den Vereins-Dauerfahrten nach Bremen gewonnen werden. Des weiteren wurden Einzel-Dauerfahrten zu den Bundestagen des „Deutschen Radfahrer-Bundes“ nach Stettin, Braunschweig, Görlitz und München unternommen, bei denen die Radfahrer des „RVW“ auch glänzend abschnitten.
Regionale Straßenrennen wurden damals auf den Strecken Schwerin-Crivitz und Schwerin-Friedrichsthal ausgetragen – oftmals unter Beteiligung zahlreicher Vereine des „DRB“.
Überhaupt nahm der „RVW“ rege am nationalen Verbandsleben teil: So starteten die „Wanderer“ beispielsweise bei den Veranstaltungen in Stettin, Bremen, Görlitz, München, Franfurt/M., Hamburg und Braunschweig.
Im Herbst 1908 mußte der „RVW“ allerdings einen herben materiellen Rückschlag hinnehmen. Durch einen Brand im früheren Vereinsheim, der „Flora“, wurden sämtliche Saalmaschinen vernichtet, so daß sich der Verein neue Maschinen kaufen mußte, was die „RVW“-Kasse äußerst belastete.
Dank Eigen-Initiative, aber auch durch finanzielle Hilfe der Stadt Schwerin sowie des Großherzogs konnte der Verein acht neue Saalmaschinen erwerben.
1909 erhielten die „Wanderer“ auch innerstädtische Konkurrenz, den Radsport-Klub „Sport“, der allerdings nicht die Bedeutung und Resonanz wie vorher der „RVW“ oder „Greif zu“ erreichte.
Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg
Infolge des ersten Weltkrieges wurde die Sport-Tätigkeit des Vereins zwischen 1914 und 1918 unterbrochen. Zwei Vereins-Mitglieder des „RVW“ starben auf dem Schlachtfeld.
Die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage nach Kriegsende hatte auch auf die Vereinsarbeit der „Wanderer“ negative Auswirkungen. So reiste der Verein nach 1918 nur bedingt zu auswärtigen Wettkämpfen.
Am 14.September 1919 konnte – trotz der angespannten Finanzlage – radsportliche Vorführungen in der Tonhalle in Schwerin veranstaltet werden. Ein weiterer organisatorischer Höhepunkt im radsportlichen Bereich der Nachkriegszeit war ebenfalls das Saalsportfest der Schweriner Radsport-Vereine in den Stadthallen1921/22.
Eine deutlich positivere Entwicklung für den „RVW“ war erst nach 1923 zu verzeichnen: So richtete der „RVW“ eine eigene Jugendabteilung ein und rechtzeitig zum 25jährigen Vereinsjubiläum überreichte der Vereinsvorstand dem ersten Fahrwart noch weitere sechs moderne Saalmaschinen.
Im Jahr 1924 wies der „RVW“ auch einen erfreulichen Mitgliederbestand auf. 12 unterstützende, 75 ausübende Mitglieder und 6 jugendliche Mitglieder vertraten die „Wanderer“.
Weitere Aktivitäten
Neben dem Rennsport widmete sich der „RVW“ in jenen Jahren – wie erwähnt – dem Kunstreigen-, Schulreigen- und Radballsport.
Die „magische Zahl“ von 100 erreichten die Wanderer in puncto Mitgliederbestand im Jahr 1926: 73 aktiven Mitgliedern bzw. 5 jugendlichen Mitgliedern standen 22 passive Mitglieder gegenüber.
Angesichts des erfreulichen Zuwachses an neuen Mitgliedern sowie aufgrund weiterer sportlicher Erfolge feierte der Verein seine 25jährige Zugehörigkeit zum „Bund Deutscher Radfahrer“ in den Sälen der Stadthallen zu Schwerin in „ausgelassener Stimmung“.
Ab 1932 wurde der Verein von Richard Schröder übernommen. Dieser setzte die Tradition des Saal- und Rennsportes in Schwerin weiter fort.
Blick in die jüngere Geschichte und Gegenwart
Und heute setzen andere diese radsportlichen Traditionen in Schwerin fort, so der Schweriner Radsportverein, der PSV Schwerin, der Schweriner Sportclub, der Verein "Rund um den Pfaffenteich" und der Fünf-Seen-Lauf e.V.
Könnerinnen und Könner aus M-V bei Bahn-Rad-WM
Ein Bahn-Rad-Quintett aus M-V bzw. mit MV-Bindungen konnte in den letzten 50 Jahren, zwischen 1972 und 2022, bei WM und Olympia imponieren, so Günther Schumacher, Stefan Nimke, Katrin Meinke, Miriam Welte und Lea Sophie Friedrich.
Günther Schumacher, Jahrgang 1949, in Rostock geboren und in seiner Karriere für den Berliner RC Grün-Weiß Derby 1921 bzw. den Verein für Rasensport Büttgen 1912 startend, wurde unter anderem Olympiasieger 1972 und 1976 mit dem westdeutschen Bahnvierer. Bei WM erkämpfte er dazu bis 1977 dreimal WM-Gold und zweimal WM-Silber.
Ein Hagenower, Jahrgang 1978, den es nach Schwerin zog, konnte fast zwei Jahrzehnte mit seinen bahnradsportlichen Erfolgen begeistern - Stefan Nimke, Mitglied des PSV Schwerin und des Track Cycling Teams M-V, wurde Olympiasieger 2004 im Teamsprint, dazu zwischen 2000 bis 2008 einmal Olympia-Silber bzw. zweimal Olympia-Bronze. Bei den UCI-Weltmeisterschaften im Bahn-Radsport holte der Wahl-Schweriner sechsmal WM-Gold und achtmal WM-Bronze zwischen 1997 und 2012. Sogar im paralympischen Sport setzte Stefan Akzente: Bei den Sommer-Paralympics 2016 erkämpfte Stefan Nimke als "Pilot" zusammen mit dem sehbehinderten Kai-Kristian Kruse Bronze im Zeitfahren, nachdem er zusammen mit Kai den dritten Rang bereits bei den Para-WM 2015 belegt hatte.
Große bahnradsportliche Klasse verkörperte Mitte der 1990er und Anfang der 2000er die gebürtige Wismarerin Katrin Meinke, die bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen vordere Platzierungen erreichte und bei Welt-Titelkämpfen 2001/2002 zweimal Bronze errang.
Eine gebürtige Kaiserslauterin, Jahrgang 1986, die zeitweise für das "Track Cycling Team M-V" radelte, ist Miriam Welte. Ihre Ausbeute bei Olympia und WM ist ganz, ganz stark: Olympia-Gold 2012 im Teamsprint, Olympia-Bronze 2016 ebenfalls im Teamsprint und "oben darauf" bei WM sechsmal Gold, dreimal Silber und sechsmal Bronze zwischen 2008 und 2019.
Last but not least: Ein Mecklenburger, den es "über den großen Teich" in die USA zog, wurde in New York zu einem hervorragenden Bahn-Radsportler, der mit dem US-Bahnvierer bei Olympia 1964 in Tokyo sogar eine Top 12-Platzierung erreichte: Hans Wolf, Jahrgang 1940, ein gebürtiger Bad Doberaner.
Lea mit aktuellen Erfolgen
Und nun hält Lea Sophie Friedrich international die "MV-Flagge" hoch. Bei Elite-WM schaffte sie 2020 WM-Gold im Zeitfahren bzw. im Teamsprint und 2021 WM-Gold im Zeitfahren, Keirin und Teamsprint, dazu WM-Silber im Sprint. Bei Olympia 2021 gab es zudem Silber im Team-Sprint.
Bei den Welt-Titelkämpfen 2022 jubelte Lea indes über WM-Gold im Teamsprint und Keirin sowie WM-Silber im Sprint.
Überhaupt kann sich die deutsche WM-Bilanz im Bahn-Radsport 2022 sehen lassen. Mit dreimal Gold, dreimal Silber, einmal Bronze wurde "Team D", zusammen mit Frankreich (mit der gleichen Medaillen-Bilanz), Dritter im ominösen Medaillenspiegel - hinter den Niederlanden (viermal Gold, viermal Silber, zweimal Bronze) und Italien (viermal Gold, dreimal Silber). Die deutschen Goldenen gingen - wie erwähnt - an Lea (Keirin, Team-Sprint zusammen mit Emma Hinze und Pauline Grabosch) und Franziska Brauße (Verfolgungsrennen). Insgesamt schürften 16 Nationen Medaillen bei den Bahn-Rad-WM 2022. Neben den Niederlanden, Italien, Deutschland, Frankreich bzw. Großbritannien (dreimal Gold, zweimal Silber, fünfmal Bronze) kamen ebenfalls Belgien (zweimal Gold), Australien, die USA und Kanada (jeweils einmal Gold) zu Titeln.
Im nächsten Jahr geht es dann zu den 120.WM im Bahn-Radsport nach Glasgow - und Lea dürfte wieder mehr als nur vorn mit dabei sein!
M.Michels