In der Schwerathletik feierte Schwerin auch bereits Erfolge. Im Jahr 1892, vor fast 130 Jahren, gründete sich in der Stadt der Athleten-Club „Germania“, der Ringen, Gewichtheben und Gewichtwerfen anbot. Und zwei Gewichtheber, die in Schwerin geboren wurden, starteten auch bei Olympischen Spielen: Jürgen Ciezki 1976 in Montreal und Marco Spanehl 1992 in Barcelona.

Auch in der Gegenwart hat der Ringkampfsport in Schwerin einen hohen Stellenwert, insbesondere beim PSV Schwerin. So findet jährlich für den Ringer-Nachwuchs der Petermännchen-Pokal in der Landeshauptstadt M-V statt, der im Jahr 2019 seine 26.Auflage feierte.

Mit viel Interesse verfolgten die Schweriner Ringkampf-Fans auch die olympischen Ringerturniere der Damen und Herren im Juli/August 2021 in Tokyo, bei denen es für die deutschen Ringerinnen und Ringer insgesamt einmal Gold (Aline Rotter-Focken) bzw. zweimal Bronze (Frank Stäbler, Denis Kudla) gab. Neben dem deutschen Ringer-Team kamen auch Japan (fünfmal), Russland (viermal), die USA (dreimal), Kuba (zweimal) und der Iran, die Ukraine und Ungarn 2021 zu Olympia-Gold.

Und natürlich jubelten ebenfalls die Schweriner Ringkampf-Fans über den Gold-Erfolg von Aline Rotter-Focken...

Im Blickpunkt: Aline Rotter-Focken

Aline Rotter-Focken – eine Frau, die ringkampfsportliche Geschichte für ganz Deutschland in Tokyo 2021 schrieb. Es gibt Unmengen von Superlativen, die für Aline gelten können. Aber treffen diese medialen Beschreibungen tatsächlich „ins Schwarze“?! Mitnichten.

Starke Willensleistung und starkes Team „im Hintergrund“

Was Aline Rotter-Focken bei den 32.Olympischen Spielen in Tokyo leistete, kann man gar nicht in Worte fassen. Allen Widrigkeiten zum Trotze, trotz der Corona-Pandemie sowie den daraus resultierenden Auflagen und Maßnahmen, bewies Aline, was geht – seien die Widerstände auch noch so groß. Ohne Ehemann Jan, der ja selbst Ringer war, ohne ihre ringkampfsportlich „verrückte“ Familie, ohne die Unterstützung ihres Vereines und ohne ihre engagierten Trainer bzw. Betreuer wäre der Triumph bei Olympia 2020, das eigentlich Olympia 2021 heißen müsste, nicht möglich gewesen.

Erfolgreiche Entwicklung einer ungemein talentierten Ringerin

Die Entbehrungen, die sie in den letzten 15 Jahren auf sich nahm, können nur wenige ermessen. Ohne eine gewisse Härte zu sich selbst, ohne eiserne Disziplin und ohne unbändigen Fleiß wäre das Gold bei Olympia 2021 für Aline unerreichbar gewesen.

Aber auch ihre Erfolge zuvor – angefangen mit Bronze bei den Junioren-EM in Warschau 2007. Danach gab es weitere fünfzehn Medaillen bei Junioren-EM, Junioren-WM, Elite-WM (plus „Ersatz-WM“ 2020) und Elite-EM bzw. Europaspielen und natürlich Olympia.

Von Belgrad 2020 nach Tokyo 2021

… Dass absolut „Großes“ in Tokyo möglich sein würde, zeigte Aline Mitte Dezember 2020 beim Weltcup, der coronabedingten Ersatz-WM 2020 in Belgrad, als sie ebenfalls siegte.

Allerdings: Die 2020 auf 2021 verschobenen Olympischen Spiele sind ja dann doch eine „andere Hausnummer“. Mehr Konkurrentinnen, die alle auf die Spiele fokussiert sind, eine besondere Atmosphäre und eine besonderer Spirit. Die alte Regel, dass Olympia eigene Gesetze hat, musste Aline ohnehin 2016 in Rio schmerzlich erleben. Als Medaillenkandidatin gestartet, endeten die Medaillenträume früh.

Kämpferin, die nie aufgibt

Aline ist jedoch eine Kämpferin, schüttelte die Enttäuschung ab, stand wieder auf und kam stärker zurück. Nicht immer reichte es zu Gold, wie beim Weltcup 2020 in Belgrad, der Junioren-EM 2010 in Samokow oder der Elite-WM 2014 in Taschkent, nein, aber Aline war in den letzten fünfzehn Jahren bei großen Turnieren fast immer vorn mit dabei. Beeindruckend!

Niederlagen sah Aline als Herausforderung an, es das nächste Mal besser zu machen, im Trainingseifer nicht nachzulassen, hoch motiviert zu bleiben und an Erfolgszielen festzuhalten.

Sie ist auch eine dieser Sportlerinnen, die ihre Sportart liebt, ja vergöttert, sie lebt – wie nur wenige. Das macht Aline zu einem echten Vorbild, zu einer Inspiration für andere, die sich nicht unbedingt im wahrsten Sinne des Wortes durchs Leben „ringen“ möchten, aber so viel wie möglich von Alines Spirit „mitnehmen“ wollen.

Spannende und mitreißende Kämpfe von Aline in Tokyo

Olympia 2020, also Olympia 2021, war auch für Aline ein Spiegelbild ihrer Karriere – und für viele ihrer Fans. Im Achtelfinale wurde angesichts des knappen Arbeitssieges über die Weißrussin Vasilisa Marzaliuk (2:1) mit gezittert, im Viertelfinale dominierte die Krefelderin die Chinesin Zhou Qian mit 8:3, im Halbfinale rang sie – wahrlich – die japanische Lokalmatadorin Hiroe Minagawa mit 3:1 nieder und im Finale – eine Sternstunde im Ringerinnen-Leben der Aline Rotter-Focken – hatte die fünffache amerikanische Weltmeisterin Adeline Gray nie eine Chance gegen Aline und unterlag mit 3:7.

Wie beurteilt nun Aline das olympische Ringer-Turnier 2021 in Tokyo?!

Nachgefragt

Aline über Olympia 2021, ihre Kämpfe, den olympischen Ruhm sowie neue Ziele und Herausforderungen

„Ohne Ringen geht es nicht!“

Frage: Wie lautet Dein persönliches Resümee zu Tokyo – nicht nur aus sportlicher Sicht?

Aline Rotter-Focken: Mein persönliches Resümee fällt durch und durch positiv aus. Ich war schon sehr dafür, dass die Spiele stattfinden! Nicht nur für uns Sportlerinnen bzw. Sportler, sondern auch für die Zuschauer daheim, die vielen Sportfans und vor allem die Kinder, deren Interesse an aktivem Sport und Bewegung durch die Olympischen Spiele vielleicht geweckt werden konnte und uns Sportlerinnen bzw. Sportlern hoffentlich nacheifern wollen.

Letztendlich geht es nicht zuletzt um die Wertevermittlung, wofür die Spiele stehen sollten: für echtes Fairplay, aufrichtiges Miteinander über alle Gräben hinweg und Toleranz. Also für etwas, was die Athletinnen und Athleten aus aller Welt wirklich leben, verinnerlicht haben (die meisten jedenfalls).

Ferner waren die Spiele in dieser schwierigen Zeit wichtig, Freude zu entwickeln, Emotionen zu entfachen und wieder den Blick auf das Positive zu richten. Die Japanerinnen und Japaner haben ihre Sache wirklich toll gemacht. Ich hatte eine wunderschöne Zeit, obwohl ich vorher einige Bedenken hatte.

Frage: Wie beurteilst Du ansonsten – kompakt betrachtet - Deine Leistungen in Tokyo?

Aline Rotter-Focken: Ich bin alles andere als jemand, der sich selbst gern lobt, aber es ist selbst mit zeitlichem Abstand zu Tokyo noch als „krass“ zu beurteilen, was mir dort gelungen ist. Eigentlich wusste ich, dass ich das Potenzial habe, jede der Mitbewerberinnen zu bezwingen.

Ich war mir aber nicht sicher, ob ich es „vom Kopf her“ hinbekomme – und das über vier Kämpfe gegen Ausnahme-Ringerinnen, die alle ihren eigenen, speziellen Stil hatten. Diesbezüglich ist ja enorme Konzentration gefragt – und da war ich mir nicht unbedingt sicher, ob ich mein Potenzial immer erfolgreich abrufen kann. Es gab also „ein Restrisiko“!

Mir sagten nach dem olympischen Turnier viele – was mir selbst gar nicht so auffiel – dass es fast fehlerfreie Kämpfe für mich waren. Mir sind zwar schon ein, zwei Sachen aufgefallen, aber im Großen und Ganzen war es schon sehr gut, sonst wäre ich ja nicht Olympiasiegerin geworden.

Frage: War es schwierig im Finalkampf gerade gegen Adeline Gray zu ringen? Sie ist doch eine gute Bekannte von Dir...

Aline Rotter-Focken: Nein, es war für mich gar nicht schwer gegen Adeline zu ringen, es war für mich eher positiv behaftet. Wir hatten uns diesen Kampf immer gewünscht, denn wir besaßen beide noch keine olympische Medaille, mögen uns und haben immer gesagt: Es wäre ein Traumfinale, wenn wir gegeneinander ringen könnten!

Dieses Finale war letztendlich für uns beide ein positives Momentum, für mich nur noch etwas mehr. Auch wenn ich verloren hätte, es wäre für mich etwas ganz Großartiges gewesen, zumal ich Adeline ebenfalls den Erfolg gönnte. Siegerin kann leider nur eine werden. Es war mir aber eine große Ehre, gerade gegen Adeline dieses Olympiafinale ringen zu dürfen.

Gegen gute Bekannte und Freundinnen zu ringen ist nicht so schwer, wie manche glauben. Das ist im Training ja ähnlich, wenn gegen Teamkolleginnen gerungen wird. Es geht darum sein Bestes zu geben – unabhängig davon, gegen wen man ringt. Die Situation ist uns also nicht fremd. Ringen ist ein super-fairer Sport – und Adeline war die Erste, die mir sofort herzlich gratulierte.

Frage: Wie geht es beruflich und persönlich für Dich weiter? Wäre eine Tätigkeit als Trainerin für Dich interessant?

Aline Rotter-Focken: Ich werde bald bei meinem Arbeitgeber wieder als Gesundheitsmanagerin einsteigen, allerdings bei einer erst einmal begrenzten Stundenzahl in der Woche. Ich bin auch nach Olympia noch mächtig eingespannt, habe verschiedene Möglichkeiten, mich zu präsentieren, den einen oder anderen Vortrag zu halten und das Frauen-Ringen zu vermarkten. Dem möchte ich mich gern widmen.

Ab 1.Januar 2022 werde ich dann beim Deutschen Ringer-Bund als Leistungssportkoordinatorin anfangen. Das ist eine administrative Homeoffice-Stelle. Da geht es weniger um die Praxis, sondern vielmehr um die „Theorie“, bürokratische Dinge, die Abläufe, die „hinter den Kulissen“ geregelt werden müssen.

Später möchte ich zudem als Trainerin einsteigen, aber Konkretes ist diesbezüglich noch nicht geplant. Auf der Matte werde ich aber auf jeden Fall bleiben, sei es als Trainingspartnerin oder als Co-Trainerin, denn ohne ringsportliche Aktivität halte ich es nicht aus! Wenn ich gebraucht werde und helfen kann, dann tue ich es gern.

Nicht zuletzt: Mein ganz aktuelles Ziel ist es, mein Leben etwas zu ordnen. Auch neben der Ringermatte gibt es wichtige Dinge zu erledigen.

Vielen Dank, weiterhin alles erdenklich Gute und maximale Erfolge im neuen Leben!

 

Die Olympiasiegerinnen im Freistil-Ringen der Frauen 2021

bis 50 Kilogramm: Yui Susaki (Japan) / bis 53 Kilogramm: Mayu Mukaida (Japan) / bis 57 Kilogramm: Risako Kawai (Japan) / bis 62 Kilogramm: Yukako Kawai (Japan) / bis 68 Kilogramm: Tamyra Mensah (USA) / bis 76 Kilogramm: Aline Rotter-Focken (Deutschland)

Länderwertung – Freistil-Ringen der Frauen – Tokyo 2021

01.Japan: 4 x 1., 2 x 5. - 32 Punkte

02.USA: 1 x 1., 1 x 2., 2 x 3., 1 x 5. - 22 Punkte

03.China: 2 x 2., 1 x 3. - 14 Punkte

04.Kirgistan: 1 x 2., 1 x 3., 1 x 5. - 11 Punkte

05.Ukraine: 2 x 3., 1 x 5. - 10 Punkte

06.Mongolische Republik: 1 x 3., 3 x 5. - 10 Punkte

07.Weissrussland: 1 x 2., 1 x 3. - 9 Punkte

08.Bulgarien: 2 x 3. - 8 Punkte

09.Deutschland: 1 x 1. - 7 Punkte

10.Nigeria: 1 x 2. - 5 Punkte

11.Aserbaidschan: 1 x 3. - 4 Punkte

12.Türkei: 1 x 3. - 4 Punkte

13.Russland: 2 x 5. - 4 Punkte 14.Kamerun: 1 x 5. - 2 Punkte

14.Lettland: 1 x 5. - 2 Punkte

(Punktvergabe: Gold-7 Punkte, Silber-5 Punkte, Bronze-4 Punkte, 4.Platz-3 Punkte, 5.Platz-2 Punkte, 6.Platz-einen Punkt)

Historisches zum Ringen der Frauen

Vor fast 35 Jahren, 1987 im norwegischen Lorenskog, fanden die ersten WM im Frauen-Freistil-Ringen statt. Damals gingen die Titel an Frankreich (fünf), Norwegen (drei) und Belgien (einen). Acht Jahre später, 1995 in Moskau, holte Nina Englich (KSV 07 Witten, bis 70 Kilogramm) mit Bronze die erste WM-Medaille für das deutsche Frauen-Ringen. Im französischen Clermont-Ferrand erreichte mit Stephanie Groß (AC Ückerath) erstmals eine Ringerin des Deutschen Ringerbundes ein WM-Finale im Frauen-Ringen – Stephanie unterlag in der Gewichtsklasse bis 62 Kilogramm knapp mit 0:1 Lise Golliot (Frankreich). Fünf Jahre später, 2002 in Chalkida/Griechenland, schrieb Brigitte Wagner (SV Siegfried Hallbergmoos) deutsche Ringerinnen-Geschichte – sie wurde erste deutsche Weltmeisterin im Ringen.

Seit den Olympischen Spielen 2004 in Athen ist Ringen für Frauen endlich olympisch. Die bisherigen Olympiasiege dort erkämpften Japan (fünfzehn), die USA, Kanada bzw. China (je zwei) und Russland, die Ukraine und Deutschland (je einen). Aline Rotter-Focken (Jahrgang 1991, KSV Germania Krefeld, u.a. Elite-Weltmeisterin bis 69 Kilogramm 2014 in Taschkent) machte sich mit dem ersten deutschen Olympiasieg im Frauen-Ringen 2021 auch „unsterblich“…

M.Michels